Der Foltereinstieg und seine Folgen

„Kontrollierter Vordereinstieg“ – Warum eigentlich?

Seit dem 5. 3. 2012 gilt in den Bussen im Hamburger Verkehrsverbund, HVV, der sogenannte kontrollierte Vordereinstieg. Das heisst, dass jeder vorne einsteigen und seine Fahrkarte vorzeigen muss. Damit soll die Schwarzfahrerquote gesenkt werden, schlussendlich geht es also um höhere Einnahmen, ergo Geld.

Hausgemachte Schwarzfahrerproblematik

Die Schwarzfahrerquote liegt im HVV bei rund 5% – im gesamten HVV, also nicht nur im Bereich der Busse, sondern auch U-, S- und Regionalbahnen und die Hafenfähren. Dem Vernehmen nach ist die Quote in den Bussen höher als in den Bahnen.

In den Bahnen hat man eine gar nicht mal so kleine Chance, mal kontrolliert zu werden. In den Bussen geht, bzw. ging bisher, die Chance gegen Null. Trotz fast täglicher, meist mehrfacher, Busbenutzung bin ich in den letzten 5 Jahren nur ein einziges Mal im Bus kontrolliert worden, ironischerweise in einem Nachtbus, bei dem man auch bisher schon beim Einstieg die Karte (die ich natürlich habe) vorzeigen musste. Bei all den zahlreichen Menschen, mit denen ich über das Thema gesprochen habe, sind die Erfahrungen ähnlich, viele haben trotz quasi-täglicher Busbenutzung noch keine einzige Kontrolle im Bus erlebt.

Dass für viele Menschen die Versuchung, schwarz zu fahren, hoch ist, wenn die Chance, erwischt zu werden, gegen Null geht, liegt auf der Hand. Diese Schwarzfahrer hat man sich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, selbst gezüchtet.

Der Vordereinstieg löst das Problem nicht näherungsweise

Nun erscheint es doch legitim und opportun, die Busfahrer beim Einstieg die Fahrkarten kontrollieren zu lassen. Eine wirkliche Kontrolle findet aber gar nicht statt, lediglich eine sogenannte Sichtkontrolle. Das kann auch gar nicht anders sein, dem Fahrer fehlt für eine wirkliche Kontrolle schlicht die Zeit. Die Sichtkontrolle ist ineffektiv, die schiere Zahl unterschiedlicher Tickets macht diese unmöglich. Schon die von Unternehmen im HVV ausgegebenen Karten unterscheiden sich deutlich, die aus S-Bahn-Automaten sind deutlich anders als die aus U-Bahn-Automaten, es gibt unzählige Sonderformen z. B. für Schüler, eine grosse Zahl verschiedener Zeitkarten, die „Proficards“ für Mitarbeiter von Grossunternehmen und noch viele mehr, die sich alle deutlich unterscheiden. Dazu kommen Fernverkehrstickets, die, sofern der Erwerber eine Bahncard hat, auch im Nahverkehr gelten. Und in homöopathischen Dosen elektronische Karten wie das Handyticket.

Da der HVV nach wie vor auf ein anachronistisches Papierticket-System auch bei den Zeitkarten setzt, ist eine schnelle und effektive Kontrolle unmöglich und findet beim Vordereinstieg nicht statt. Nicht nur kommt man mit einem ewiglich abgelaufenen Einzelticket problemlos durch, man kann in der Tat ein beliebiges Stück farbiges Papier vorzeigen. Und genau das passiert, die Kids aus der letzten Reihe überbieten sich gegenseitig mit Erzählungen, welches absurde Stück Altpapier sie vorgezeigt haben.

Wer Schwarzfahren will, kann es also weiterhin problemlos tun, und das spricht sich verdammt schnell rum. Die einzigen, die man so erwischt, sind die unabsichtlichen Schwarzfahrer – typischerweise Inhaber von Zeitkarten, die diese vergessen haben.

In anderen Städten, die den kontrollierten Vordereinstieg eingeführt haben, war die Schwarzfahrerquote nach 6 bis 12 Monaten auf dem gleichen Niveau wie vorher. Leider hatten nur wenige, wie Mainz und Aachen, die Grösse, diese Fehlentscheidung einzugestehen und zu korrigieren.

Zeitkarteninhaber, die diese vergessen haben, stehen nun schlechter da

Wer seine Zeitkarte nicht dabei hat und erwischt wird, zahlt gegen Vorlage eben dieser und des Kontrollzettels nur eine Bearbeitungsgebühr von 2,50 EUR. Jetzt müssen sie beim Busfahrer eine Fahrkarte erwerben – obwohl sie ja im Besitz einer gültigen Fahrkarte sind.

Selbst die Sichtkontrolle findet effektiv nicht statt

In der zweiten Woche des Vordereinstiegs habe ich nicht ein einziges Mal meine Fahrkarte (und auch nichts anderes) vorgezeigt – folgenlos. Egal ob ich hinten einsteige, was ich wann immer möglich, also fast immer, tue, oder vorne einfach am Fahrer – den ich dann fast immer mit einem Moin! begrüsse, er mich also nicht „übersehen“ kann – vorbeigehe. Und ich wohne mitten in der Stadt, die Fahrer sind immer andere, das ist also kein „er kennt mich“-Stammkundenbonus.

Die Pünktlichkeit ist dahin

Es gab auch bisher verspätete Busse. Doch seitdem der kontrollierte Vordereinstieg praktiziert wird, war jeder einzelne Bus, den ich benutzt habe, deutlich verspätet. Es passiert exakt das Erwartete, an der Vordertür staut es sich und die Abfahrt verzögert sich deutlich. An den meisten Haltestellen, wo der Bus bisher keine 30 Sekunden stand, steht er nun etwa 2 Minuten!

Vom HVV wird postuliert, der „bessere Fahrgastfluss“ würde an den meisten Haltestellen sogar Zeit sparen. Jeder, der gelegentlich selbst mal Bus fährt, kann diese dreiste Lüge als solche entlarven. Die Statistik aus dem „Testgebiet“ südlich der Elbe ist wertlos, dort wurden kurz vor Einführung des kontrollierten Vordereinstieges die planmässigen Fahrzeiten deutlich erhöht.

Der „bessere Fahrgastfluss“ ist realitätsverachtende Propaganda. Der vordere Teil des Busses, zwischen der ersten und zweiten Tür, ist nun meistens drückend voll, während weiter hinten oft sogar noch Sitzplätze frei sind.

Aggressive Grundstimmung

Doch nicht nur die Pünktlichkeit ist dahin. Was ich nicht für möglich gehalten hätte, ist Realität geworden – die Stimmung im Bus ist gekippt. Während zumindest in den Bussen auf den von mir am meisten genutzten Linien – 3 und 15 – bisher eine recht lockere, freundliche Stimmung herrschte (das war zugegebenermassen auch bisher nicht in allen Stadtteilen der Fall), führt das permanente Gedrängel inklusive unvermeidlichen Remplern nun zu einer aggressiven Grundstimmung – und die permanenten Verspätungen tragen das Ihre bei.

Ausbaden müssen es die Fahrer

Die Aggression richtet sich nicht nur gegen andere Fahrgäste, was für sich genommen schon schlimm genug wäre, sondern insbesondere gegen die Fahrer. Und die können nun wirklich nichts dafür. Berichte von Übergriffen auf die Fahrer häufen sich, exemplarisch möchte ich auf diesen Bericht eines Busfahrers verweisen, der neben zahlreichen weiteren mit wenigen Sekunden googlen zu finden war.

Komfortable Busbenutzung war einmal

Beim Komfort gab es auch bisher schon deutlichen Verbesserungsbedarf, aber zumindest ausserhalb der Hauptverkehrszeiten und abseits der berüchtigten Linien wie der 5, die drastisch das Versagen der Hamburger Verkehrspolitik (da gehört ein schienengebundenes Verkehrsmittel hin!) zeigen, war die Busbenutzung recht komfortabel. Ich konnte bisher mit meinem morgendlichen Galao (portugiesischer Milchkaffee) in der einen und Buch und/oder Smartphone in der anderen Hand bequem zum Bus wackeln, einsteigen, mich hinsetzen und weiterlesen. Würde ich den kontrollierter Vordereinstieg mitspielen, müsste ich mein Portemonnaie aus der Hosentasche holen, die Fahrkarte rausfummeln, aufklappen, dem Fahrer präsentieren und dann das ganze Spielchen wieder rückwärts – wo stelle ich so lange meinen Kaffee ab? Danach muss ich mich durch die Menschenmasse nach hinten, wo meist reichlich Platz ist, drängeln – wenn das überhaupt geht.

Das ist sicherlich kein unlösbares Problem, aber ein sehr deutlicher Komfortverlust – der Fahrgast wird zum Beförderungsfall.

ÖPNV des Prekariats?

Es muss in unser aller Sinne sein, dass so viele Menschen wie möglich auf ihr Auto verzichten oder es sogar ganz abschaffen. In den Städten ist schlicht kein Platz für so viele Autos, von den Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit mal ganz abgesehen. Dazu muss die Benutzung der alternativen Verkehrsmittel und damit insbesondere des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) aber attraktiv sein – Komfort und Geschwindigkeit sind wichtige Faktoren dabei, und beides wird durch den kontrollierten Vordereinstieg deutlich verschlechtert. Ansonsten wählt, wer Alternativen hat, eben diese, und die ist in vielen, wohl den meisten, Fällen das eigene Auto. Als Nutzer des ÖPNV bleiben dann nur die nicht wahlfreien übrig, also all jene Menschen, die keine Alternative haben – neben Menschen, die aufgrund von niedrigem Alter oder körperlichen Einschränkungen kein Auto fahren können, vor allem jene, die sich schlicht kein Auto leisten können. Das kann nicht Ziel sein, der Verkehrsinfarkt ist dann unvermeidbar und offensichtlich.

Was machen eigentlich Rollstuhlfahrer und Fahrgäste mit Kinderwagen?

Die Rampe für Rollstuhlfahrer ist natürlich an der zweiten Tür, und ebenso offensichtlich passen weder Kinderwagen noch Rollator durch den Gang. Diese Personengruppen müssen also weiterhin hinten einsteigen. Für die Kinderwagenschieber schlägt der HVV vor, sie sollten an der Haltestelle ihre Fahrkarte hochhalten, der Fahrer würde dann hinten öffnen. Dass so keine Kontrolle möglich ist, ist offensichtlich. Aber nicht einmal das funktioniert, oft werden Kinderwagenschieber nach dem Einstieg nach vorne zitiert oder (häufiger) gehen von alleine nach vorne, um ihre Karte zu zeigen – wenn das ob des Gedränges im vorderen Bereich überhaupt geht. Nun steht der Bus noch länger, denn bevor der Kinderwagen wieder fest in der Hand des/der Begleitenden ist, kann und darf der Bus nicht losfahren, das wäre viel zu gefährlich – aber auch das ist schon passiert.

Gefährlich wird es für alle Fahrgäste

Auch ohne Kinderwagen oder Rollstuhl wird es leider schnell gefährlich. Der HVV selbst schreibt vor, dass sich Fahrgäste im Bus, so sie nicht sitzen, festzuhalten haben. Was mit stehenden, sich nicht festhaltenden Fahrgästen passiert, wenn der Bus schnell bremsen muss, dürfte klar sein. Da die beim Fahrer vorgezeigte Karte aber auch erstmal wieder verstaut sein will, bei den meisten Menschen nun mal im Portemonnaie, sind die Hände aber erstmal nicht zum Festhalten frei. Eigentlich müsste der Fahrer jetzt warten, bis alle Zugestiegenen ihre Karten verstaut haben und entweder sitzen oder sich festhalten. Das ist natürlich vollkommen illusorisch. Hier führt der kontrollierte Vordereinstieg sogar zu einer reellen Gefährdung der Fahrgäste!

Wer steckt eigentlich hinter dem kontrollierten Vordereinstieg?

So ganz klar ist das nicht, man darf aber wohl davon ausgehen, dass nicht die Betreiber der Buslinien – neben einigen kleineren Firmen vor allem die Hamburger Hochbahn und die VHHPVG-Gruppe – selbst den Vordereinstieg forciert haben. Von der erhofften höheren Einnahmen haben diese Firmen – beide sind, nebenbei bemerkt, im Besitz der Stadt Hamburg und im Falle der VHHPVG teilweise Schleswig-Holsteins – nichts. Die Fahrgeldeinnahmen sind nicht kostendeckend (und müssen das auch nicht sein, dürfen es eigentlich noch nichtmal, um einen bezahlbaren ÖPNV zu haben). Die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben wird aus Steuergeldern finanziert. Aus eben diesem Grund ist wohl auch der HVV selbst nicht die treibende Kraft, sondern die Politik.

Liebe Politik – zeigt Grösse und korrigiert eine Fehlentscheidung!

Wie oben dargelegt erreicht der kontrollierte Vordereinstieg das gewünschte Ziel nicht, führt aber zu massiven Problemen. Es ist nie angenehm, eine Fehlentscheidung zuzugeben und zu korrigieren, aber genau das ist hier dringend nötig.

Was kann ich als Fahrgast tun?

Den kontrollierten Vordereinstieg mit all seinen Nachteilen und Zumutungen einfach hinzunehmen, sich zu ärgern und vielleicht im privaten Kreis darüber zu meckern, ist natürlich nicht zielführend. Ich sehe mehrere Wege, bei denen möglichst viele Fahrgäste mitmachen sollten.

Ziviler Ungehorsam

Ein schlichter Boykott des kontrollierten Vordereinstieges funktioniert recht gut. Hinten einsteigen, wann immer es geht, ansonsten ohne Vorzeigen der Karte vorne einsteigen. Fordert der Fahrer allerdings zum Vorzeigen der Karte auf, sollte dem Folge geleistet werden, am besten unter sachlichem verbalen Protest. Die Fahrer sind genauso Opfer dieser unsinnigen Regelung wie wir Fahrgäste und nicht die Schuldigen, kommunizieren aber natürlich mit ihren Vorgesetzten.

Je mehr Fahrgäste den kontrollierten Vordereinstieg boykottieren, desto offensichtlicher wird dessen Unsinn, und das muss irgendwann auch bei den Verantwortlichen ankommen.

Beschweren!

Die Verantwortlichen dürften die täglichen Zumutungen und die daraus entstehenden Probleme gar nicht selbst mitkriegen. Eine eMail, ein Anruf oder ein Brief an die Busunternehmen und den HVV (info@hvv.de) kosten nicht viel Zeit.

Da im Endeffekt die Politik das letzte Wort zum Thema hat, sind hier auch die passendsten Adressaten für Kritik zu finden – natürlich immer sachlich und nicht ausfallend. Die Verkehrspolitiker der Parteien sind gute Adressaten, in der Bezirken genauso wie in der Bürgerschaft. Vor allem die der regierenden SPD. Ole Buschhüter sitzt für die SPD in der Bürgerschaft, bezeichnet Verkehrspolitik als seinen Schwerpunkt und ist Vorsitzender des Verkehrsausschusses. Die Vertreter mit Schwerpunkt Verkehrspolitik in den Bezirken sind leicht über die Webseiten der jeweiligen Fraktionen herauszubekommen. Auch der Vertreter im eigenen Wahlkreis ist ein guter Adressat. Doch nicht nur bei der regierenden SPD, auch bei den Oppositionsparteien ist Kritik angebracht.

Öffentlichkeit schaffen!

Ist die Kritik deutlich öffentlich sichtbar, ist die Politik früher oder später zum Handeln gezwungen. Leserbriefe an Hamburger Zeitungen sollten da ihre Wirkung nicht verfehlen. Ebenso hilfreich ist die Kritik im Internet, in Blogs und sozialen Netzwerken.